Berliner Zeitung vom 14.09.2025

Die Schriftstellerin Mirijam Günter geht mit ihren Literaturwerkstätten für benachteiligte Jugendliche
in die Provinz und in den Jugendarrest. Wieso empört sich dort niemand über Armut und Hoffnungslosigkeit?

Im Frühjahr 2025 sitze ich mit einigen Kunstinteressierten zusammen. Sie echauffieren sich darüber, dass für manche Menschen Corona immer noch Thema ist. Jetzt sei es doch mal gut, ist ihre Meinung. Es war doch alles gar nicht so schlimm, so die These am Tisch. Für sie, die genug Geld und das Glück haben, in guten Wohnverhältnissen zu leben, ist das Thema Corona beendet. Und die anderen? Die Armen? Die in beengten Wohnungen ohne Grün leben müssen? Wo es nur Armut im Überfluss gibt? In den Literaturwerkstätten, die ich seit 2008 für benachteiligte junge Menschen in der deutschen Provinz anbiete, ist Corona bis heute Thema.

„Ich habe alle verloren, die ich einst geliebt habe“, schreibt eine Fünfzehnjährige. Ich frage, was „einst“ war. „Zu Corona“, erzählt sie, „meine Mutter konnte sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen. Dann hat sie auch noch ihren Job verloren. Da haben alle gedacht, sie hätte den verloren, weil sie sich nicht impfen lassen wollte. Das hat sich in meiner alten Schule herumgesprochen, und ich wurde gemobbt. Keiner sprach mehr mit mir, ich wurde als Nazitochter und Schwurbler beschimpft. Niemand hat zu mir gehalten. Meine Mutter konnte uns nichts mehr bieten, alles Geld war aufgebraucht. Ich hatte richtig Hunger mit meinen Geschwistern. Ich bin dann gar nicht mehr in die Schule gegangen, auch wenn man durfte.“

Seit Corona ist es auch um die Debattenkultur in Deutschland sehr schlecht bestellt. Es gibt nur noch Schwarz-Weiß. Es herrscht das Prinzip: Wer nicht meiner Meinung ist, ist mein Feind, und den schreie ich an und beleidige ihn, weil er eine andere Meinung hat, die falsch ist. Weil ja, wie man weiß, Menschen ihre Meinung ändern, wenn man sie beleidigt und anschreit.

In Norddeutschland werde ich zu einer Diskussion eingeladen. Junge Menschen im wahlberechtigten Alter sollen kommen. Die Politik möchte es schaffen, dass sie, die kein Gymnasium besuchen, sich für Politik interessieren und wählen gehen. Sie wollen den Kontakt wiederherstellen. Wann der verloren gegangen ist oder ob der jemals da war?

Es gibt einen Moderator. Also jemanden, der zwischen den Leuten vermitteln und lenken soll. Am Abend vor der Veranstaltung treffe ich mich mit ihm. Ein jovialer, intellektueller Typ. Wir unterhalten uns. Er outet sich als Grünenanhänger, aus einer Großstadt. Irgendwann kommen wir auf die Weltpolitik zu sprechen.

Er beschimpft mich als Putinversteher.

„Deutschland muss alles an Waffen in die Ukraine schicken, was wir haben“, erklärt er mir. Ich sage nichts. „Oder sind Sie anderer Meinung?“ Ich sage immer noch nichts. „Sie denken das hoffentlich auch?“ „Ich bin nicht so sicher.“ Das darf man auf gar keinen Fall in der heutigen Zeit sagen. Dass man was nicht weiß, dass man unsicher ist.

Er beschimpft mich: als Putinversteher – wegen Leuten wie mir würde heute Hitler gewinnen –, als Lumpenpazifist und idiotischen Traumtänzer. Er, der Moderator, kriegt sich gar nicht mehr ein, er fühlt sich im Recht, und deswegen denkt er, darf er mich beleidigen, weil ich ja dumm bin und keine Ahnung habe. Das ist der traurige Alltag in Deutschland. Menschen, die aus einer woken Großstadtbubble kommen, denken, nur sie dürfen bestimmen, was über Sachen gedacht und gesagt wird. Sie würden das sofort abstreiten, aber sie benehmen sich so.

Bestes Beispiel ist der geforderte Verzicht auf das Auto. Man solle sich doch das Deutschlandticket kaufen. Sie können sich ja mal mit einem Deutschlandticket in Feldberg oder Grürmannsheide am Sonntagabend an die Bushaltestelle setzen. Wenn Sie Glück haben, nimmt sie am Montagmorgen der Schulbus mit. Und stellen Sie sich vor, es gibt tatsächlich jede Menge Menschen, die an Orten wie Tarp, Letmathe, Marktredwitz und Senftenberg leben. Als ich das einem Journalisten erzähle, kann er sich sein überhebliches Grinsen nicht verkneifen und fragt mich, ob ich dort umgestiegen sei. „Nein, ich habe dort unfassbar nette und engagierte Menschen erlebt.“

Und sonst in der Provinz? Für die Erwachsenen gibt es ein paar Gaststätten. Das ist schon eine Ausnahme. Es gibt Provinzen, da gibt es überhaupt nichts (mehr). Nichts meint: keinen Bäcker, keinen Arzt, kein Geschäft, keine Kneipe, nichts. Es gibt keine Gewerkschaften, keine Kirchen (da sollten einige mal ihren Jubel über den Niedergang der Kirchen in Deutschland überdenken), keinerlei gesellschaftlich engagierte Gruppen. In dieses Vakuum hat sich die AfD mancherorts eingenistet. Sie organisiert Nachmittage für Senioren, Kinderfeste, Busreisen. Stell ich mich dann als Mirijam Günter hin und beschimpfe Leute, die daran teilnehmen, als Nazis?

In der Provinz, in den Kleinstädten und Dörfern haben die Menschen Ängste, die von einer Großstadtblase belächelt werden. Was ist denn, wenn ich in Verhältnissen wohne, wo es kaum oder gar keine Infrastruktur gibt, und es wird ein Flüchtlingsheim gebaut, in dem auf einmal Hunderte Flüchtlinge wohnen sollen. Darf ich mir dann Sorgen machen? Oder bin ich sofort ein Nazi? In Hamburg, Köln und Berlin ist es ziemlich einfach, „Fuck die AfD“ zu rufen.

Egal, wo ich bin, ob in einer Stadt oder in der Provinz, den jungen Menschen mangelt es an allem. An gesundem und reichhaltigem Essen, Fahrrädern, Urlauben, Bildung und politischer Aufklärung.

In einer Berufsschule kommen wir auf das Thema Politik zu sprechen. Gemein ist den jungen Menschen, dass sie viel zu früh Verantwortung für ihre Familien übernehmen mussten. Eigentlich gab es gar keine Jugend für sie. Ein wenig Unbeschwertheit bringe ich mit, ich stelle eine Art Kakao, Möhren und eine arabische Nussmischung auf den Tisch. Wir lachen viel. Aber Politik? Die EU? Da fällt ihnen nichts ein.

„Sorry, Mirijam, was machen die denn so?“ „Überlegt doch nochmal“, ermuntere ich sie. Da fällt einer jungen Frau doch noch etwas ein: „Die haben doch dafür gesorgt, dass man die Deckel von den Flaschen nicht mehr abbekommt.“

Zur Bundespolitik fällt ihnen mehr ein: „Die machen alles so teuer, dass wir gar keinen Spaß im Leben mehr haben.“ „Die bauen keine Wohnungen für uns.“ „Die machen uns so arm, dass meine Mama abends am Küchentisch sitzt und weint.“ „Die sorgen dafür, dass wir nie Urlaub machen können.“ Ich frage, ob es auch was Positives gebe. Da die jungen Erwachsenen mich sehr mögen, strengen sie sich richtig an beim Nachdenken. „Oh nee, Mirijam, keine Chance!“ „Ich glaube, das wissen die Politiker auch. Und damit wir die ganze Scheiße ertragen, erlauben sie uns das Kiffen“, beschließt ein junger Mann die Runde.

Was wird über die Abgehängten so gedacht? „Die machen sich alle über uns lustig, die äffen unsere Sprache nach, unsere Klamotten, nur unsere Armut wollen sie nicht“, stellt in einer Literaturwerkstatt eine junge Frau ganz nüchtern fest. Da muss ich ihr leider größtenteils recht geben.

Viele schaffen es nur mit der Tafel.

Wer erhebt die Stimmen für sie, mit ihnen? Im Fernsehen? In Podcasts? Von Böhmermann bis Kebekus höre ich nichts. Gibt es vielleicht nicht genug Klicks dafür? Stattdessen wird sich gerne über ihre Lebensweise, ihre Klamotten und ihre Ängste lustig gemacht.

Viel wird über die Menschen geschimpft und schon fast gehetzt, die Bürgergeld beziehen. Ich, die ich selber aus der Armut komme, weiß, wie qualvoll es ist, von so wenig Geld leben zu müssen. Aber es wird gesagt, dass die Menschen zu faul sind zu arbeiten, dass sie genauso viel bekommen, wenn sie Bürgergeld beziehen. Das heißt doch aber im Umkehrschluss, dass es unfassbar viele Jobs gibt, für die man sich abrackert, und trotzdem nicht über die Runden kommt. Wieso sorgt das nicht für Empörung?

Wer arm ist, ist froh, wenn er am Ende des Monats noch was zu essen hat, da geht es nicht um eine ausgewogene, gesunde Ernährung, sondern schlicht darum, keinen Hunger zu haben. Viele schaffen das nur mithilfe der Tafeln. Dementsprechend ist der Anteil der Veganer in meinen Literaturwerkstätten seit 2008 an einer Schreinerhand abzulesen. Gendern tut hier niemand, und Fridays for Future war ideal, um die Schule zu schwänzen. Bei einer Literaturwerkstatt schauten wir in unserer Freizeit bei einem Stand der jungen Aktivisten vorbei. Der Unterschied hätte nicht größer sein können. Hier meine Jugendlichen, die Jungs mit akkuraten, kurzen Haaren, die Mädchen mit langen Locken und meist lackierten Fingernägeln. Dort Mädchen mit Rastas, die Jungs teils mit Röcken. Die Sprache der Aktivisten verstanden meine Jugendlichen nicht. Sie kannten einander auch nicht, obwohl alle in derselben Kleinstadt wohnten.

In der Provinz in Ostdeutschland schreibt eine elfjährige Schülerin: „Träumen ist nichts Schlimmes, erwachsen werden schon.“ Was sie damit meint? Dass sie sieht, wie ihre Eltern schuften und sich abrackern und es trotzdem nicht reicht. Nicht für einen Urlaub, nicht für neue Möbel, es gibt keinen Ausflug in den Freizeitpark und keinen Bubble Tea. Aber das Mädchen sieht jeden Tag, wie Gleichaltrige Schlange vor dem Bubble Tea stehen. Und ihre Eltern müssen sich Sätze von Politikern anhören wie: „Die Leute in Deutschland müssen einfach mehr arbeiten.“ Hört sich das für die Betroffenen nicht wie Hohn an? Strengt sich eine Mutter, die Vollzeit beim Billigdiscounter an der Kasse sitzt, nicht an? Oder ein Vater, der den ganzen Tag Pakete ausliefert?

Ich gebe eine Runde Bubble Tea aus. „Das ist doch viel zu teuer“, sagt ein Junge und schaut mich besorgt an. „Mach dir keine Sorgen, ich habe Engel in meinem Leben, die geben mir, wenn ich was brauche.“ Zum Abschied in der Literaturwerkstatt steckt mir das Mädchen einen Zettel zu: „Grüß mir deine Engel. Wir sollten uns alle einen Engel suchen. Vielleicht ist das die Lösung.“

Gute Idee. Denn überlegen wir mal, hätte Marx keinen Engel an seiner Seite gehabt, aus ihm wäre nie ein großer Philosoph geworden. Ich fand und finde meine Engel bei aufrichtigen Kommunisten und hilfsbereiten Katholiken. Der Unterschied ist ja nicht so groß.

Was ihr da oben einfach nicht versteht

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