Mirijam Günter bietet Literaturwerkstätten für Benachteiligte an. Warum viele von ihnen ihr Stimmrecht ungenutzt lassen, hat sie spätestens im Lockdown verstanden

„Wir haben jetzt wochenlang Ferien aber ich kann nichts mit meinen Kindern machen. Keinen Urlaub, keinen Freizeitpark, noch nicht mal in den Zoo“, sagt die alleinerziehende Mutter, die beim Discounter arbeitet. „Das Wenige, was ich erspart habe, ist alles während des Lockdowns draufgegangen, als die Kinder nicht zur Schule durften. Die haben sich zu Hause die Köpfe eingehauen. Oder meinen Sie, ich hätte für die drei Kinder jeweils ein eigenes Zimmer? Und dann muss ich mir das dumme Geschwätz der Politiker anhören, wir sollen uns zusammenreißen und so. Die haben gut Reden in ihren Villen und mit der Kohle. Gott sei Dank versteh ich eh nur die Hälfte von dem, was die sagen. Die wissen doch überhaupt nicht, wie wir leben müssen. Ich wähl keinen von denen.“ Die Frau ist aufgebracht und traurig. Ich habe gerade eine Literaturwerkstatt in Norddeutschland beendet und war mit der Mutter, die ihren zwölfjährigen Sohn abholte, ins Gespräch gekommen. Der steht etwas deprimiert daneben. „Du hast aber gesagt, wir gehen in den Ferien einen Hamburger essen“, wirft er schließlich ein. „Das werden die uns auch noch verbieten.“

Hat denn die Mutter Recht? Hat die – nicht nur politische – Elite keine Ahnung vom Leben der „einfachen Leute“? Mitten im Lockdown spaziere ich abends in einem Park und entdecke drei Jugendliche, die sich hinter einem Gebüsch verstecken. Ob es ihnen nicht zu kalt sei, frage ich. „Wir können nicht nach Hause, da ist es zu eng, da gibt es nur Stress. Wissen die Politiker, was sie da machen? Die versauen uns die Jugend!“ ärgert sich die junge Frau unter ihnen. „Die müssen ja auch nicht so hausen wie wir. Meine Mutter sucht verzweifelt eine größere Wohnung, aber als Ausländer hast du keine Chance, genauso wenig, wie ich einen Ausbildungsplatz finde. Ich bin jetzt 18 geworden, aber ich werde nicht wählen gehen. Ich weiß nicht, was die Politiker machen, mit uns hat das nichts zu tun!“

Viel zu erwachsen

Mit einer Gruppe von jungen Menschen gehe ich im Norden in ihrer Freizeit spazieren. Nach unserer Literaturwerkstatt haben sie mich etwas verschüchtert gefragt, ob sie noch bei mir bleiben dürften. Dass Erwachsene ihre Freizeit mit ihnen verbringen, hatten sie noch nie erlebt. Sie fragen mich, warum die Politik nichts gegen ihre Armut tut, warum ihre Eltern arbeiten und arbeiten und trotzdem nichts dabei herauskommt. Sie sind für ihr jugendliches Alter wahnsinnig vernünftig, reflektiert und viel zu erwachsen. Erst auf dem Spielplatz, wo keine Kinder spielen und ich mich auf eine Schaukel setze, fällt ihre Angestrengtheit ein wenig von ihnen ab. Als wir gehen, sagt eine Jugendliche, dass sie seit Jahren nicht mehr so viel Spaß hatten.

Wir gehen in die Innenstadt, wo junge Menschen mit einem Stand gegen die Klimapolitik demonstrieren. Ob wir da hingehen wollen, frage ich.

„Nee, die stinken“, antwortet ein Mädchen. „Ich riech nix!“

„Okay, Mirijam, aber nur, weil du es bist. Mit dir gehen wir überall hin.“

„Auch in die katholische Kirche und da mit Senioren wandern?“

„Klar“, rufen zwei Jungens.

„Peinliche“ Klimaschützer

Wir gehen zu dem Stand. Die Jungen in meiner Gruppe haben akkurate Kurzhaarfrisuren, die Mädchen alle glatte lange Haare und lackierte Fingernägel. Am Stand stehen junge Menschen, teilweise mit Pumphosen, Dreadlocks oder bunten Haaren. Einer am Infotisch sagt, wir sollten uns doch bitte Flyer mitnehmen. Meine Jugendlichen fangen an zu kichern und rennen weg. Am nächsten Tag erzählen sie, dass sie das mit der Umwelt schon wichtig finden, aber dass die Leute so peinlich waren.

„Gehst Du trotzdem mit uns in die katholische Kirche und dann mit den alten Leuten wandern?“

„Klar, habe ich doch versprochen.“

„Erwachsene versprechen viel und halten nichts“, kommentiert ein Schüler, mit einer Traurigkeit in der Stimme, die mir richtig Angst macht.

Auf dem Weg werden wir vom Starkregen überrascht. Statt sich in Trockenheit zu flüchten, schmeißen sich die Jugendlichen in die Pfützen und lachen. Die Erwachsenen, die das sehen, können sich mit verächtlichen Kommentaren nicht zurückhalten. „Hören Sie doch mal damit auf“, weise ich ein paar zurecht, „die Schüler haben in der letzten Zeit ja wohl genug gelitten“.

Pitschepatsche nass, aber fröhlich kommen wir an der Kirche an. Dort stehen schon ein paar Senioren und wollen wissen, wen wir suchen.

„Euch“, antwortet einer aus meiner Gruppe schüchtern, „wir wollten doch mit euch wandern gehen“. Da lächeln die älteren Leute und hören damit in der nächsten Stunde nicht mehr auf.

Zum Dank eine Kopfschmerztablette

Zum Abschluss der Woche bedanken sich die Schüler mit einer Aspirin bei mir, weil ich sie ausgehalten hätte und auch mal über Politik mit ihnen geredet hätte, das würde sonst nie einer tun. Auch nicht die Eltern, die größtenteils den Wahlen fernbleiben. „Meine Mutter sagt, die labern nur Scheiße und interessieren sich nur dafür, dass wir Steuern zahlen, aber nicht für unsere Probleme.“ Das können einige in der Gruppe bestätigen.
Politische Bildung fehlt auch bei jungen Flüchtlingen.

Einer erzählt mir: „Voll peinlich, Mirijam, aber weißt du was? Ich bin ja jetzt schon lange hier und verstehe alles, aber am Anfang halt nicht und da habe ich gedacht, die Nazis hätten Deutschland besetzt und ganz viele Deutsche wären dann abgehauen und als die Nazis Deutschland wieder verlassen haben, sind die Deutschen zurückgekommen und haben Entschuldigungsschilder aufgehangen. Uns hat das aber auch keiner erklärt. Keiner unterhält sich mit uns über Geschichte oder Politik. Ich habe so viele Fragen aber keiner spricht mit uns.“

Stimmt das denn, was die Leute mir erzählen? Sprechen die Eliten eine andere Sprache? Ein Landtagsabgeordneter kommt mich in Westfalen an einer Schule besuchen, wo man einen niedrigen Schulabschluss erwerben kann. Meine Jugendlichen aus meiner Literaturwerkstatt haben ein paar Fragen vorbereitet. Ich hatte dem Herren vorher mehrfach erklärt, dass er bitte in einer einfachen Sprache sprechen soll. Obwohl er es versprochen hat, hält er erstmal einen für die Schüler unverständlichen Monolog. Bei den Fragen der Schüler gibt er Antworten, die ich übersetzen muss. Er ist nicht in der Lage, so zu sprechen, dass ihn die Fünfzehnjährigen verstehen. Als er geht, bedanken sich die Schüler bei mir, dass ich alles erklärt habe.

„Mein Vater sagt auch, die sind nicht aus unserer Welt, deshalb gehen meine Eltern auch nicht wählen.“ Das bestätigen auch andere in der Runde von ihren Eltern. Oft muss ich mir von gut situierten Menschen anhören, dass das mit den verschiedenen Welten doch Quatsch sei.

Unfähig zu einfacher Sprache

Eine Professorin möchte mich in einer Literaturwerkstatt besuchen. Ich bitte sie, in einer einfachen Sprache zu sprechen. Sie verspricht es mir. Nicht nur ihr Erscheinungsbild ist aus einer anderen Welt. Sie erzählt den Schülern etwas über ihren Beruf, in einer gegenderten Sprache, die viele Fachbegriffe beinhaltet. Nach ihrem Vortrag hat keiner eine Frage. Ich bringe sie aus der Schule. Als ich wiederkomme, hört schlagartig das Gespräch unter den Schülern auf. Ich möchte wissen, was los ist, die Schüler schweigen mich an. „Kommt jetzt, sagt schon, was ist denn los?“ „Können wir der Frau helfen?“, fragte mich ein Junge. „Warum? Die Dame hat genug Geld.“ – „Aber sie ist doch behindert, sie hat so komisch gesprochen. Deswegen haben wir ja auch nichts verstanden.“ Sie erklären mir, dass sie die gegenderte Sprache, für einen Sprachfehler hielten.

Jugendliche, die mit ausländischen Namen keinen Ausbildungsplatz finden, Erwachsene, die mit ausländische Namen keine Wohnung finden oder nur schwer, ist das Realität? Ersteres berichten mir immer wieder Sozialarbeiter quer durch die Republik. Zweiteres wird im aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht bestätigt. Darin heißt es auf Seite 323, dass 35 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund, die in den vergangenen zehn Jahren eine Wohnung gesucht haben, Diskriminierung aus rassistischen Gründen oder wegen der ethnischen Herkunft erlebt haben. Laut dem Bericht müssen Menschen mit Migrationshintergrund höhere Quadratmeterpreise zahlen, was auf Diskriminierung hinweist. Zudem stehen ihnen Wohnungen mit geringer Qualität und Quantität zur Verfügung. Zudem berichten mir Jugendliche und Erwachsene immer wieder von Kontrollen durch staatlich Behörden. Da ich selbst schwarze Locken und eine bräunliche Hautfarbe habe, kann ich das leider nur bestätigen. Ein Cafébesitzer, in der dritten Generation in Deutschland, berichtet mir von den Schikanen durch Ordnungsbehörden. Immer wieder seien sie gekommen und hätten wissen wollen, wo er das Hinterzimmer habe, in welchem das illegale Glücksspiel stattfindet. Er hat kein Hinterzimmer. Und er ist nicht der einzige Mensch mit Migrationshintergrund, der mir von Schikanen erzählt. Laut dem aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht (Seite 423) gehen Menschen mit Migrationshintergrund seltener zu Wahl. Kann man es ihnen verdenken, wenn sie in dieser Gesellschaft so diskriminiert werden und sie immer wieder zu spüren bekommen, dass sie hier nicht hingehören?

In einer Schule habe ich auf einmal ganz viele migrantische Jungs als Fans. „Du bist eine von uns“, sagen sie, „auch Ausländer. Du weißt, wie wir uns fühlen.“ Das passiert mir allerdings nicht nur wegen meiner Hautfarbe, sondern auch wegen meiner Biografie. Ich erzähle den Schülern immer, dass ich von der Hauptschule komme und auch weiß, was es heißt, arm zu sein. Ich bin sozusagen einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt: aufgrund meiner sozialen Herkunft und aufgrund meiner Hautfarbe. Aber bei den Jugendlichen kommt an: da steht endlich mal einer von uns. Das sagen sie auch ganz oft.

Parlament der Akademiker

Und sonst? In der Politik, in den Zeitungen, in den Gewerkschaften? Menschen aus der Armut? Die Nicht-Akademiker sind im Bundestag deutlich in der Minderheit. Nur jeder achte Sitz ist durch einen Politiker besetzt, der das Abitur oder eine Berufsausbildung als letzten Bildungsgrad angibt. 14 Abgeordnete verfügen über den Titel „Meister“. Drei haben lediglich die mittlere Reife erworben. Wenn aber niemand aus meiner Schicht kommt, niemand weiß, was es heißt um sein Überleben zu kämpfen, mit zittrigen Händen den Briefkasten aufmachen zu müssen, weil da eine Rechnung liegen könnte, die nicht bezahlt werden kann, wenn der Herd nicht kaputt gehen darf und man seinen Kindern nichts bieten kann, seinen Partner oder seine Partnerin nicht zum Essen einladen kann, Kinobesuche unmöglich sind, wenn niemand aus meiner Schicht bei den politisch Verantwortlichen sitzt, wie kann er dann Partei für mich ergreifen? Wie kann er sich so ausdrücken, dass ich ihn verstehe, wenn er nur unter Seinesgleichen ist? Ich kann mich doch nicht mit Menschen identifizieren, die nicht wissen, was es heißt, so leben zu müssen wie ich, die sich auch nicht für meine Meinung interessieren und die sich nicht so ausdrücken können, dass ich sie verstehe, und die Gesetze beschließen, die mir nicht helfen. Wieso sollte ich solche Menschen wählen?

Im Bundestag liegt der Anteil der Abgeordneten mit einem Migrationshintergrund bei 8,2 Prozent, obwohl der Anteil in der Bevölkerung bei 25,5 Prozent liegt. Geht man die Ebenen weiter hinunter, werden es immer weniger: Oberbürgermeisterposten haben nur 1,5 Prozent mit Migrationshintergrund.

Was mir selbst widerfahren ist

Im April vergangenen Jahres befand ich mich plötzlich nachts um halb zwei mit Handschellen auf dem Gehweg. Wie später im Polizeiprotokoll zu lesen war, hatte eine Dreizehnjährige nachts um eins aus dem Fenster geguckt und zwei Verdächtige, dabei beobachtet, wie sie versuchten, ein Fahrrad zu klauen. Eine der Personen wurde von ihr als Typ „Zigeunerin“ beschrieben.

Eine halbe Stunde später lag ich mit Handschellen auf dem Boden, laut Polizeiprotokoll habe ich schwarze Locken und eine bräunliche Hautfarbe.

Während des Einsatzes der Polizei beleidigte mich eine der eingesetzten Polizistinnen mehrfach. Sie schleppten mich zu meiner Haustür nahmen mir die Handschellen ab. Ich schloss die Haustür auf und fragte, ob es jetzt gut sei. Der männliche Polizist sagte ja, aber die Beamtin sagte, sie wolle in meine Wohnung. Ich sagte, dass sie das nicht dürfe, da sie dafür einen richterlichen Beschluss bräuchte. Sie ging zu Seite und telefonierte. Dann kam sie zurück, und meinte, sie hätte die Erlaubnis. Ich sagte, dass ich das nicht glauben würde und dass ich sie nicht in meine Wohnung lassen würde. Sie riss mir den Schlüssel mit den Worten aus der Hand: „Was willst du denn dagegen machen, solchen Typen wie Euch glaubt eh keiner.“ Ich bin damit an die Öffentlichkeit gegangen.

Die Polizistin musste dann in dem gegen Sie eingeleiteten Strafverfahren 150 Euro Strafe wegen Nötigung und Hausfriedensbruchs bezahlen. Zu den rassistischen Äußerungen und Beleidigungen gegen mich hieß es dann, dass diese von der Polizistin bestritten worden seien und somit Aussage gegen Aussage stünde. Keiner der Kollegen und Kolleginnen der Polizistin will dieses Gespräch mitbekommen haben.

Das ist mir als Publizistin Mirijam Günter so ergangen. Übrigens im ach so toleranten Köln. Im Stadtteil Ehrenfeld, wo aus gefühlt jedem zweiten Fenster eine Antirassismusfahne hängt. Bis heute hat sich nicht ein einziger Mandatsträger aus dem Kölner Rat dazu geäußert. Wenn das jemandem passiert, der aufgrund seiner Herkunft keine Wohnung und keine Ausbildungsstelle findet, verabschiedet der sich von dieser Gesellschaft, auch oder gerade politisch. Er wendet sich ab, von einer Mehrheitsgesellschaft, die ihn ganz offensichtlich nicht haben will. Die soziale Spaltung ist in Deutschland immer breiter. Es muss sich ganz dringend etwas ändern!

Aber es gibt auch Hoffnung. Tage später, nachdem durch den WDR bekannt wurde, dass die Kölner Polizei sich bei mir entschuldigt hat, erreicht mich der Brief eines Polizisten: „Liebe Frau Günter ich habe leider die Nachrichten meiner Kölner „Kollegen“ gesehen. Ich selbst bin Polizeikommissaranwärter bei der Polizei …. Vorfälle wie diese sind wirklich das Allerletzte und ich schäme mich zutiefst dafür, dass Sie Opfer dieses rechtswidrigen Verhaltens geworden sind. Das Verhalten der Beamten ist durch nichts zu rechtfertigen und ich hoffe, dass diese keinen Bürgerkontakt mehr haben. Leider gibt es Polizisten, welche durch Ressentiments geprägt sind. Woher diese kommen, ob durch sog. Berufssozialisation oder bereits verfestigte rassistische Einstellungen wird zu untersuchen sein. Ich hoffe sehr, dass Sie die Geschehnisse verarbeiten können. Es gibt auch andere Polizisten, leider sind es die Negativbeispiele, welche sehr viele andere Bedienstete buchstäblich in den braunen Dreck ziehen.“ Mehr davon!

Von denen, die nicht wählen gehen

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