Demokratie 
Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen scheint schon wieder ewig her, Schlagzeilen über die niedrige Wahlbeteiligung sind verschwunden. Wer dennoch wissen will, warum so viele von ihrem Recht keinen Gebrauch machten, muss mit ihnen reden.

„Was haben die Mappen gekostet, Mirijam?,“ fragte mich ein Junge im April dieses Jahres in einer Stadt in Nordrhein-Westfalen in einer Literaturwerkstatt, die ich seit 2008 im gesamten deutschsprachige Raum für benachteiligte junge Menschen durchführe. „Geld. Tomaten hat das Geschäft nicht genommen“, sage ich. „Danke auf jeden Fall, weil wir haben gerade alle nicht so viel Geld“, antwortet er.

Nach der Literaturwerkstatt stehen zwei Zwölfjährige noch etwas verdruckst herum. Ich hatte zu Beginn gesagt, dass ich auch nachmittags zur Verfügung stehen würde. Sie fragen mich verschüchtert, ob ich mit ihnen spazieren gehe. Ich kaufe uns erst mal ein Brötchen mit Bratwurst zum Mittagessen. Sie zeigen mir ihre kleine Stadt. „Ich kenne keine Erwachsenen, die freiwillig mit uns ihre Freizeit verbringen“, sagt einer der Jungen erstaunt zu mir. „Meine Mutter würde das schon machen aber sie hat keine Zeit. Jetzt kommt sie noch später nach Hause, weil sie noch einen Putzjob angenommen hat.“

„Meine verkauft jetzt sonntags Brötchen, aber in den Urlaub fahren können wir trotzdem nicht, meine Mama sagt, es reicht hinten und vorne nicht“, meint der andere. „Noch nicht mal ein gebrauchtes Fahrrad kann sie mir kaufen, dabei würde ich so gerne eine Fahrradtour machen.“

Ständig fehlt das Geld zum Leben

Wie mir die beiden erzählen, reicht es für nichts, obwohl beide alleinerziehende Mütter neben ihrem festen Job zusätzlich arbeiten gehen. „Meine Mutter würde so gerne mal in einem Café sitzen und einen Cappuccino so aus einer richtigen Tasse trinken. Wenn ich später Geld habe, lade ich sie jeden Tag ein. Jetzt geht das ja leider nicht“, erzählt mir einer der Jungen mit einer Traurigkeit, die einem Angst macht. Sie flüchten sich aus ihrer Traurigkeit in Fantasiewelten und erzählen mir von den tausenden Euro, die schon auf ihren Konten seien. Dann kommt die Realität zurück. „Warum tun die Politiker nichts gegen unsere Armut?“ und „Warum hilft keiner unseren Müttern?“, fragen die Jungen mich. „Meine Mutter hat gesagt, die geht nicht wählen. Die hat gesagt, diese Politiker versteht eh kein Mensch. Denen sind wir scheißegal.“ Das bestätigt auch sein Freund, auch dass seine Mama nicht wählen geht.

Stimmt das denn? Ist die politische Elite so abgehoben und spricht eine Sprache, die in der normalen Bevölkerung nicht mehr verstanden wird? In einem noch nicht ganz so gentrifizierten Kölner Stadtteil, dort wo so gerade eben noch Pflegekräfte oder Bäckereifachverkäuferinnen sich die Miete abringen können, stehen an jenem vergangenen Wahlsonntag Mitte Mai etliche Bürger vor verschlossenen Schulen. Dort, wo sie jahrelang wählen gegangen waren. Man hätte natürlich auf seine Wahlunterlagen schauen und erkennen können, dass es nun eine zentrale Stelle gab, wo man seine Stimme abgeben konnte. Ja, einerseits, andererseits jedoch – was für ein geringer Aufwand wäre es gewesen, einfach mal eine Woche vorher ein paar Zettel aufzuhängen, um die Anwohner zu informieren, dass die Wahl woanders stattfindet?

„Die wollen doch gar nicht, dass wir wählen gehen, das ist doch Absicht“, hörte ich nicht nur einmal vor der geschlossenen Schule. Wie viele Leute sich dann zu dem einen Kilometer entfernten Wahllokal aufgemacht haben? Ein ehemalige Arbeiterpartei hatte den Stadtteil zuvor mit dem Slogan: „Go gentrify yourself! But not our Veedel!“ zuplakatiert. Da kamen sich einige Menschen einfach nur noch verarscht vor. Was dieser Spruch zu bedeuten hatte, konnte mir selbst mein akademischer Bekanntenkreis nicht erklären.

„Die haben Angst vor uns“

Traditionell gab es in Köln an Wahlabenden ein Treffen im Kölner Rathaus. Die Parteien sammelten sich da, aber auch jeder Bürger durfte dorthin gehen. Man blickte gemeinsam auf die Wahlergebnisse und trank auch ein von der ein oder anderen Partei ausgeschenktes Bier. Bürgernähe nannte man so was mal. Dann kam Corona und man schaffte dieses Ereignis ab. „Die haben Angst vor uns“, kommentierte das ein Hausmeister, dem ich das erzählte.

Für Menschen, die in desolaten finanziellen Verhältnissen leben, war diese Wahl in NRW eine Farce, wie sie mir immer wieder berichteten. Die ohnehin schon bedrückende wirtschaftliche Situation wurde durch Corona verschärft, der Krieg hat die Angst nochmals erhöht. „Mein Vater macht keinen Brief mehr auf“, erzählt mir ein Mädchen, „der hat Angst, dass uns das Leben um die Ohren fliegt“. Was der Vater damit meint? Dass man sich das Wenige auch nicht mehr leisten kann! Angst, dass man im Winter in einer kalten Wohnung sitzt! Angst, in gar keiner Wohnung mehr zu sitzen. Zu beten, dass kein Gerät in der Wohnung kaputt geht. Angst, den Briefkasten aufzumachen. Angst vor der nächsten Mahnung. Von Besuchen in Kinos, Restaurants und Zoos noch nicht mal mehr zu träumen.

Welcher Politiker kommt aus solchen Verhältnissen? Wenn mir Menschen, die in solchen Verhältnissen leben müssen, etwas über Politiker erzählen, sehe ich in Gesichter voller Wut. Sie schuften und rackern sich ab und es reicht nicht. Abends schalten dann diese Menschen den Fernseher ein und hören Politiker, die davon erzählen, dass man auch verzichten sollte und das man auch mal einen Winter frieren kann. Und diese Menschen sitzen da und wissen: die, die das erzählen, werden nie verzichten und nie frieren müssen. Und sie fragen sich, von welchen Geld sie eigentlich die Notvorräte kaufen sollen, die ihnen empfohlen wurden.

Warum so viele Menschen nicht wählen gehen

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