Die Kölner Schriftstellerin Mirijam Günter spricht mit Rebecca Ramlow über ihre Geschichte und ihre Geschichten.

Wer ist meine Mutter? Wer mein Vater? Wo bin ich geboren? Wann ist mein Geburtstag? Das sind Fragen, die fast jedes Kleinkind beantworten kann. Doch es gibt auch Menschen, die anders aufgewachsen sind und die das alles nicht wissen. Die Kölner Schriftstellerin Mirijam Günter ist eine davon. Nicht, weil sie an Gedächtnisverlust leidet, sondern weil sie ein Findelkind ist. Das ehemalige Waisenkind wurde gefunden und wuchs in verschiedenen Heimen auf. Eltern hatte sie keine. Niemand kennt ihr genaues Geburtsdatum. „An meine Kindheit kann ich mich nicht so gut erinnern“, sagt die Autorin. Sie scheint sie abgestreift zu haben. Abgespalten, wie eine lästige zweite Haut. Mir erscheint es stellenweise wie ein Wunder, dass wir uns im Bürgerzentrum Ehrenfeld gegenübersitzen und sie über ihr Leben und ihre Arbeit mit jungen Menschen spricht.

Flucht in die Phantasie

Mirijam Günter verzagte nicht. Sie schaffte es, ihre schwierige Situation in etwas Positives zu verwandeln. Trotz harter Kindheit kann sie lachen, wirkt sie entschieden. Nicht zuletzt, weil die positive Kraft des Schreibens ihr schon als Jugendliche half: „Statt in Drogen bin ich in meine parallele Phantasiewelt geflüchtet“, sagt Günter. In der Schule kam sie damit nicht weiter. Hauptschüler wurden als dumm abgestempelt, sie und ihr Talent übersehen. Genau das ist der Grund, weshalb Günter sich auch heute noch in Sprachwelten stürzt. „Ich schreibe, weil ich etwas sagen will: Ich rege mich über die Spaltung in unserer Gesellschaft auf.“ Mirijam Günter schreibt von unten, aus einer Perspektive heraus, die sie selber nur zu gut kennt: der der Ärmeren und Benachteiligten. „Ein Teil der Gesellschaft wird total vergessen“, empört sich Günter. Sie sieht eine immer größer werdende Schwere zwischen überbehüteten Kindern und solchen, die überhaupt keine Chance haben.

Kein Platz für Träume

Mirijam Günter schreibt von unten nach oben, und das mit Erfolg. So erhielt ihr Erstlingsroman „Heim“ (2004 dtv) den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis. Vielleicht, weil es ein lebendiger Einblick in die leblose Welt eines Heimkindes ist. Eine Realität, in die sie immer wieder abgeschoben wurde. Eine, in der es keinen Raum für Phantasie gab: „Unsere Welt, die Welt der Jungen und Mädchen aus den Heimen, hatte keinen Platz für Träume, sie ließ uns keine Zeit dazu. Wir lebten wie batteriebetriebene Männchen, solange die Batterie voll war, liefen wir. Wenn die Batterie leer war, waren wir tot.“ (Zitat aus „Heim“ von Mirijam Günter).

Es folgte „Die Ameisensiedlung“ (2006 dtv), eine Geschichte über eine Clique in einem sozialen Brennpunkt. Protagonistin Conny lebt dort mit einer alkoholsüchtigen Mutter und ihren Halbgeschwistern. Und schließlich „Die Stadt hinter dem Dönerladen“ (Größenwahnverlag 2015): einmal mehr ein Einblick in die Welt eines Außenseiters, der um sein Überleben kämpft.

Mittlerin zwischen den Welten

Wenn Mirijam Günter nicht schreibt, veranstaltet sie Literaturwerkstätten für junge Schüler:innen, für Straftäter:innen oder Geflüchtete. Sie setzt sich für Leseförderung ein, weil sie Jugendlichen aus sozial schwachen und aus Einwanderer-Familien die Chance geben möchte, etwas zu lernen. „Ich sehe mich als Schriftstellerin in der Verantwortung, nicht nur der Elite eine Stimme zu verleihen,“ erklärt sie. „Dabei versuche ich, diesen Kindern Selbstbewusstsein und Romantik beizubringen.“ Das gelingt der Schriftstellerin – auch, weil sie deren Sprache spricht. Als Mittlerin zwischen den unsichtbaren, vergessenen Kindern und der davon meilenweit entfernten Politik und Gesellschaft, denkt sie sich in die jungen Menschen hinein. Schreibt auf Augenhöhe. Günter vertraut jenen, die andere längst aufgegeben haben. Wenn sie in eine Hauptschule kommt, um den Heranwachsenden kreatives Schreiben beizubringen, heißt es oft: „Aber das sind doch Hauptschüler.“ Dann antwortet sie: „Deshalb bin ich da.“

Ohne Teppich geerdet

Aktuell arbeitet die Schriftstellerin an einem neuen Buch. Dreimal darf man raten, worum es geht: um einen weiteren von der Gesellschaft ausgegrenzten Exoten. Mit einer sagenhaften Energie hat Mirijam Günter es geschafft, nicht durchzudrehen, sondern auf dem Teppich zu bleiben. Auch wenn sie als Kind selbst keinen hatte. „Warum sind Sie nicht verrückt geworden?“ frage ich. „Weil ich einen Schutzengel habe,“ lautet die Antwort. Günter versteht es, ihren jungen Leser:innen und Schüler:innen zu vermitteln, dass es möglich sein kann, etwas zu erreichen – auch wenn der Start holprig ist.

Von unten nach oben

Beitragsnavigation