Von Mirijam Günter

Sie sind eine Viertelstunde zu spät!“ Herr Lück ist so genervt, dass er sogar das bürgerliche „Guten Tag“ vergisst. „Ich habe verschlafen.“ „Unser Termin war um 14 Uhr, da kann man doch nicht verschlafen?! Was haben Sie denn gestern gemacht, dass sie heute so lange geschlafen haben?“ „Ich habe ein paar Folgen von ‚Wunderbare Jahre‘ geschaut.“ „Klar, und danach ‚Ein Engel auf Erden‘.“ Wenn er so reagiert, dann weiß ich, dass Dr. Lück mir nicht glaubt. So gut kenne ich ihn mittlerweile.

„Ich möchte gerne, dass wir uns heute mal in einer normalen Sprache unterhalten, sonst kommen wir hier nicht weiter. Sie haben mich im letzten Monat sitzen lassen, heute kommen sie zu spät. Ich glaube, dass Sie dringend Struktur in Ihr Leben bringen müssen.“ „Was?“ „Termine einhalten, vernünftig mit Menschen reden, dass sie verstanden werden. Vielleicht suchen Sie sich einfach einen Job!?“ „Ich habe eine Berufung!“ „Die konnten Sie mir schon beim letzten Mal nicht erklären. Das scheint ja auch eine Schwierigkeit von Ihnen zu sein, Dinge so zu erklären, dass ihre Mitmenschen das verstehen.

“ Meine Sprache versteht keiner. Ich bin der einsamste Mensch auf Erden, tanzen die Sätze an den Wänden. Der Dämon der Traurigkeit hat seinen Platz neben der Wanduhr eingenommen und winkt mir zu. Ich halte mich an den Armlehnen des Sessels fest. Dr. Lück schaut zur Wand, aber er sieht die Traurigkeit nicht. Logisch, sie winkt ja auch nur mir zu.

„Das muss ja kein Vollzeitjob sein, vielleicht so von 8 bis 14 Uhr?“ „Und was soll ich da machen?“ „Verkaufen, bedienen. Es werden doch gerade überall händeringend Leute gesucht.“ Händeringend. Das Ende der Dichtung. Da war doch was?

„Ich soll mich um halb sechs aus dem Bett quälen und Leute bedienen. Ich glaube, das möchte die Menschheit nicht.“ „Sie bringen damit einfach ein Stück Normalität in Ihr Leben.“ „Finden Sie, dass ich nicht normal bin?“ Auf solch eine Frage kann er als Therapeut keine Antwort haben. „Ich soll also aufstehen, wenn ich müde bin?“ „Das legt sich mit der Zeit. Sie haben mit Menschen zu tun, die sich freuen, dass Sie da sind. Bestimmt nette Kollegen.“ „Ich soll mich vor dem Aufwachen aus dem Bett quälen, um jeden Tag dieselben Kollegen zu sehen?“ „Wenn Sie verkaufen oder bedienen, haben Sie ja mit unterschiedlichen Menschen zu tun. Die sich freuen, wenn sie auf einen freundlichen Menschen wie Sie treffen.“ „Ich bin nicht freundlich, wenn ich früh aufstehen muss!“ Im Geiste schütte ich meinem ersten Gast schon mal den Cappuccino ins Gesicht. Wenn ich irgendwo einen Aushang sehe, auf dem steht: Freundliche und flexible Aushilfe gesucht, dann weiß ich, dass ich garantiert nicht gemeint bin.

„Ich will Ihnen doch nur helfen!“ „Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich wieder auf die Spur kommen und meine Traurigkeit in den Griff bekommen möchte.“ „Wenn Sie beschäftigt sind, kommt die Traurigkeit vielleicht gar nicht mehr. Sie sind dann vielleicht zu erschöpft, um traurig zu sein.“ Mich erschöpft der Gedanke, morgens um halb sieben aufzustehen, jetzt schon. „Versprechen Sie mir, dass Sie bis zum nächsten Termin darüber nachdenken werden?!“ „Hmm!“ „Hmm“ kann alles heißen, dass müsste Dr. Lück mittlerweile auch wissen. „Noch was! Ich möchte, dass Sie zu unserem nächsten Termin Ihren besten Freund mitbringen.“ „Den Beweiner?“ „Ja.“ „Das war mein bester Freund.“ „Bringen Sie ihn bitte mit!“ „Warum?“ „Es ist für unser Vorankommen wichtig, dass wir über Sie auch aus seiner Perspektive reden.“ „Ich habe ihn verloren.“ „Rufen Sie ihn an!“ „Er geht nicht dran.“ „Dann ruft er doch bestimmt zurück.“ „Nie.“ „Was soll das denn für ein bester Freund gewesen sein? Sind Sie sicher, dass es ihn gibt?“

Ich blicke Dr. Lück so an, dass er sofort begreift, dass er nicht noch ein einziges Wort des Zweifels äußern sollte. „Ich werde Mafalda und Frederick fragen, ob sie mir bei der Suche nach meinem besten Freund helfen können.“ „Mafalda ist eine Comicfigur und Frederick ist eine Feldmaus aus einem Bilderbuch.“ „Und deshalb dürfen die beiden mir nicht helfen?“ „Machen Sie, was Sie wollen. Bringen Sie einfach nur Ihren besten Freund mit.“ Dr. Lück schaut auf die Uhr. Er soll froh sein, dass ich ihm heute eine Viertelstunde geschenkt habe. Irgendwo in der Stadt hängt ein Schild: Viertelstunde für Dich. Mein Geschenk.

„Ich frage TKKG um Hilfe.“ „Das sind Figuren aus einem Jugendbuch. Eine erfundene Geschichte!“ „Ich werde es den Jungs ausrichten. Oder lieber nicht. Es könnte sein, dass sie vorbeikommen und so einen Oi-Punk abspielen, dass Sie eine Woche nichts hören können. Oder dass sie Sie mit ihren Billardqueues zu Fischstäbchen verarbeiten werden.“ „Wie halten Sie sich eigentlich selbst aus?“ Endlich mal eine vernünftige Frage.

„Können Sie dann für das übernächste Mal mal einen Polizisten besorgen? Ich würde mal so gerne mit einem Polizisten sprechen, finde aber keinen. Sie können doch bestimmt einen einladen. Wenn er nicht kann, kann ich mich auch so mit ihm treffen und mit ihm spazieren gehen. Ich habe zu Hause einen Fragenkatalog, den ich gerne mal einem Polizisten stellen würde.“ „Unsere Sitzung ist beendet. Bis zum nächsten Mal!“

DOKTOR LÜCK UND DIE NORMALITÄT

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