Persönliche Gedanken aus der Sicht „von unten“
Mirijam Günter

Vorbemerkungen
Der Themenschwerpunkt dieses Heftes „Behinderung – Benachteiligung – Alter(n)“enthält vor allem Beiträge zu Menschen mit Beeinträchtigungen des Sehens und Hörens sowie der Kognition. Sie sind maßgeblicher Teil des Lebens der Betroffenen entweder von Geburt an oder im Laufe des fortschreitenden Alterns. Es erschien uns jedoch wichtig ,dass im vorliegenden Heft nicht nur Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen im Kontext medizinisch fassbarer Schädigungen thematisiert werden. Vielmehr sollten auch Menschen, die mit oftmals lebenslangen sozialen Benachteiligungen älter und alt werden, in das Blickfeld der Leserinnen und Leser kommen. Was heißt es, unter den Bedingungen von prekären Lebenslagen, von sozialen bzw. soziokulturellen Benachteiligungen älter und alt zu werden? Wir baten die Kölner Schriftstellerin Mirijam Günter, uns dazu einen Beitrag zu verfassen.

Frau Günter führt seit rund 15 Jahren Literaturwerkstätten durch und legt dabei „ihrenSchwerpunkt nicht auf zahlungsbereite Kultureinrichtungen und/oder Gymnasien,sondern hauptsächlich auf Orte, wo benachteiligte, nicht oder kaum geförderte Jugendlicheihr von der Bevölkerung abgelehntes Dasein fristen“ (so formulierte es sie in ihrenautobiografischen Notizen, um die wir sie im Zusammenhang mit einem früheren Artikelin dieser Zeitschrift gebeten hatten; Günter, 2015, S. 345). Vor allem Haupt- und Förderschulensowie Jugendgefängnisse gehören zu ihren bevorzugten Feldern der Literaturarbeitmit Jugendlichen und Heranwachsenden.

Die Autorin hat eine „gebrochene Biografie“ (Günter, 2015, S. 355) mit Aufenthalten in verschiedenen Kinder- und Jugendheimen und nicht abgeschlossenen Berufsausbildungen. Sie merkt dazu, nicht ganz frei von Sarkasmus, an: „Mirijam Günter, in Köln und in vielen anderen beinahe genau so schönen Städten aufgewachsen, absolvierte in mehreren Stationen letztlich erfolgreich die Hauptschule, gekrönt mit einem Realschulabschluss. Nach für alle Beteiligten deprimierenden Versuchen, durch das Erlernen eines ordentlichen handwerklichen Ausbildungsberufs im normalen Leben zu landen, entschied sie sich endlich, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen – zu schreiben“ (www.mirijam-guenter.de). Für ihren ersten Roman „Heim. Eine Heimkarriere in Deutschland“ erhielt sie 2003 den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis. Weitere Veröffentlichungen folgten, so in renommierten Zeitungen wie „Die Zeit“, „Süddeutsche Zeitung“ und weitere Monografien und Romane, z. B. „Die Ameisensiedlung“ (2006) und „Die Stadt hinter dem Dönerladen“ (2015). Durchgehend spiegelt sich darin ein hoch sensibler Blick „von unten“ wider, bedingt durch die Lebensgeschichte der Autorin.

Den folgenden Gedanken zum Älter- und Altwerden von Menschen, die oftmals in sozial benachteiligte, hoch belastete Lebensverhältnisse hineingeboren werden und schwere lebensgeschichtliche Hypotheken unter Umständen bis in ihr hohes Alter mitschleppen, liegen also eigene persönliche Erfahrungen der Autorin zugrunde wie auch die Erfahrungen von Menschen im Kontext ihrer Lernwerkstätten. Das macht die Authentizität und Eindrücklichkeit dieser biografisch getränkten Reflexionen – jenseits einer systematisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung – aus. Der erste der beiden Teile dieser Gedanken mündet in einer eindringlichen Bitte oder Aufforderung:

„‘Wir müssen unseren Frieden mit unseren Traumata machen und sie als Teil von uns akzeptieren, sonst werden wir neue schlimme Erlebnisse nicht ertragen können, ohne von ihnen überwältigt zu werden‘ (Conradt, 1979). Und diese Erlebnisse werden Zeit unseres Lebens kommen, darauf ist Verlass. Das Kind in uns hat nie gelernt sich selbst zu akzeptieren, aber wir als Erwachsene sollten es tun. Wir sollten uns so akzeptieren, wie wir sind, mit all unserer Traurigkeit, das ist der erste Schritt zur Heilung. Sich gemeinsam mit all seinen Dämonen und Schatten zu respektieren, nimmt ihnen den Schrecken. “

Dieses Postulat erinnert an das 8-stufige Modell der psychosozialen Entwicklung des Psychoanalytikers Erik H. Erikson, der das gesamte Leben als eine Abfolge von Entwicklungsaufgaben und damit auch das Altern als Entwicklungsprozess ansieht (Erikson,1988; siehe auch Radebold & Radebold, 2015, S. 59). Menschen im Alter komme dabei die Aufgabe zu, das eigene Leben sowohl mit seinen positiven wie negativen Anteilen zu akzeptieren, also auch Probleme und Belastungen sowie Brüche in das Gesamt des Lebens(laufes) zu integrieren. Andernfalls komme es nach Erikson zu Verzweiflung und zu Lebensekel (daher steht diese 8. und letzte Entwicklungsstufe unter der Bipolarität „Integrität versus Verzweiflung“).

Insofern ist die Ermutigung, sich selbst auch nach vielen hoch belasteten und teils traumatischen Erfahrungen „so akzeptieren, wie wir sind“, sicher eine wichtige Bedingung dafür, auch und gerade im Älter- und Altwerden halbwegs gut leben zu können. Aber diesen „ersten Schritt zur Heilung“ zu gehen, ist oftmals schwer. Wie sollen denn biografisch hoch belastete, traumatisierte Menschen diesen Schritt ‚mit all ihrer Traurigkeit‘ schaffen, wenn sie ihn bislang nicht gegangen sind und gehen konnten. Was könnte ihnen helfen, diesen Schritt in Richtung Selbstakzeptanz zu gehen? Denn zunehmendes Älter- und Altwerden kann ja auch zu gänzlicher Resignation und steinharter, chronifizierter Verbitterung führen. Daher nochmals gefragt: Was hilft Menschen mit lebensgeschichtlichen Belastungen, einen solchen Schritt des Akzeptierens und der Integration doch zu gehen? Vielleicht tragen dazu andere Menschen bei, die einem zugewandt sind?Vielleicht sind es das Wissen und die auf Erfahrung gegründete Einsicht, dass einem nichts anderes bleibt, als sich selbst ein so gut wie möglich zu sein? Vielleicht ist es auch ein Hauch dessen, was man als Weisheit des Alters nennen könnte, aus der Erfahrung herauf, dass einem vor allem das bleibt, was man sich selbst im Positiven (und nicht Negativen)„antut“ …? Dazu hat Frau Günter ihren Überlegungen einen zweiten Teil hinzugefügt. Darin wird eindrucksvoll deutlich, wie Menschen in benachteiligten Lebenssituationen ihr Leben lang um Stabilität und Anerkennung, um (Selbst-)Akzeptanz ringen.

K. M., H. W.

1.

Kindheit prägt – eine Kindheit im Heim oder in anderen marginalisierten Zuständen prägt auf besondere Weise. An wen fühle ich mich gebunden? Wer liebt mich? Solche Fragen sind dann auch später, für ältere und alte Menschen, kaum zu beantworten.
„Ich hatte noch Jahrzehnte später das Gefühl, als wäre ich auf einem anderen Planetenaufgewachsen“, schrieb mir ein Mittvierziger, der seine Kindheit und Jugend im Heimverbrachte. „Und sogar heute noch. Obwohl ich schon längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen bin, passiert es mir, dass ich in einer mir vertrauten Gruppe sitze und mich eine solche Traurigkeit und Einsamkeit packt und ich plötzlich denke, ich gehöre nicht dazu. Merken die das eigentlich nicht?

Der meistgeschriebene Satz in meinen Literaturwerkstätten lautet: „Ich habe alle verloren, die ich geliebt habe.“ Geschrieben auch von Erwachsenen oder gerade von ihnen.
Aber stimmt es denn, dass ein junges Leben im Heim oder in einer sonst wo verstörenden Umgebung einen Einfluss auf das erwachsene Leben hat?

Tatsache ist, dass der Wunsch nach einem normalen Leben für immer bleibt, was immer das auch sein soll und so unrealistisch dieser Traum auch ist. Diese hilflose Situation, in der man sich befindet, die aus einer traumatischen Kindheit und Jugend resultiert und die Seele für immer bekümmert, wird von anderen Menschen ausgenutzt, oder man hat das Gefühl, man zieht die Enttäuschungen magisch an. Tatsache ist allerdings auch, dass man mit dem Anspruch von Freundschaft und Vertrauen eine so hohe Messlatte angelegt hat und die eigenen Sehnsüchte völlig unrealisierbar sind, dass man nur enttäuscht werden kann.

Ich habe mir immer einen Vater gewünscht, nie eine Mutter, komisch, oder?, erzählt mir eine Frau, die in Heimen aufgewachsen ist. Ich habe ihn mir fast herbeigebetet und es sogar mal den Betreuern erzählt, aber die fanden das lächerlich. Der Wunsch ist bis heute so geblieben, obwohl ich ja längst erwachsen bin. Ich habe viele Enttäuschungen erlebt, was dieses Thema betrifft. Heute weiß ich, sobald das Gefühl hochkommt, das könnte Dein Ersatzvater sein, musst Du fliehen. Ansonsten endet diese Geschichte immer in einer Katastrophe. Es gab ja auch die Typen, die gesagt haben, ich schwöre Dir, ich bleibe bei Dir und lasse dich nicht fallen. Das wurden dann eigentlich die schlimmsten Geschichten. Sobald das jemand zu mir gesagt hat, bin ich durchgedreht und die Geschichte ist dann richtig gegen die Wandgeknallt. Heute weiß ich von Anfang an, wie diese Geschichten enden.
Die meisten Ersatzväter sind schweigend oder mit Vorwürfen gegangen, aber einige haben mir auch Abschiedsbriefe geschickt, die waren alle nach demselben Motto geschrieben. Die kann ich dann zusammenfassen und meinem nächsten potenziellen Vaterkandidaten direkt beim Kennenlernen in die Hand drücken. In den Briefen standen so Sachen wie: Du bist eine starke Person, aber du hast etwas in mir berührt, was mir nicht gut tut und von dem ich, bis ich dich kennenlernte, nicht wusste, dass es existiert. Ich hätte mich niemals auf dich einlassen sollen, ich bin dem gar nicht gewachsen. Nach solchen Geschichten steh ich da, ich habe Schmerzen, die Erde wackelt, ich gehe wie auf Eiern. Und trotzdem suche ich geradezu nach diesen Menschen, weil es sich, für einen winzigen Augenblick, gut anfühlt, bevor es in eine sich langsam steigernde Katastrophe übergeht und ich mich wieder so einsam und verlassen fühle wie früher. Und ich weiß, es wird niemals gut, das ist das Schlimme. Ich weiß, dass es niemals aufhört. Oder mit siebzig, hoffentlich, dann sind die Ersatzväter alle gestorben. Da fürchte ich mich noch mehr (Renate).

Ich kann die Dame beruhigen. Aus Erzählungen von Siebzigjährigen weiß ich, dass der Wunsch bleibt. Und die Kandidaten sterben nicht aus.
Aber stimmt das denn für alle? Bleibt jeder früh Traumatisierte tatsächlich unwiderruflich anders? Es gibt doch Menschen, die aus furchtbaren Verhältnissen kommen und es wenigstens für eine gewisse Zeit packen!
So wie der Vater von K. In Heimen aufgewachsen gründete er eine Familie und war erfolgreich in seinem Job. All das Dunkle hatte er verdrängen können. Dann waren die Kinder aus dem Haus, die Stille kam, der Job lag hinter ihm. Und es packte ihn die Vergangenheit und schmiss ihn zu Boden. Alles war wieder da, aber keiner verstand den ehemaligen Doktor in Rente. Wie kann man sich nach den vielen, vielen Jahren, die doch so erfolgreich waren, von der kurzen Zeit im Heim einholen lassen? In Wahrheit aber war das Trauma nie weg. Es hat im Dunklen unter dem Bett gelauert, bis endlich die Zeit ohne Ablenkung da war und dann kroch es erbarmungslos hervor, ließ den Menschenverstummen und – ihn seine Angst im Alkohol ertränken.
Von der Angst haben mir zigfach ältere Menschen erzählt. Diese Angst, dass alles, was man sich mühsam erkämpft hat, platzt wie eine – nein, nicht Seifenblase, sondern wie eine Bombe.
Man ist sich seiner nie wirklich sicher geworden. Es sollte, so war es in der Kindheit angelegt, aus einem ja nichts werden. Und dann ist doch etwas geworden. Im tiefsten Innern aber glaubt man es nicht. Die Angst verfolgt einen auf Schritt und Tritt. Was ist da in meinem Briefkasten? Eine Ablehnung? Eine horrende Rechnung, die ich niemals bezahlen kann? Ein Brief, in dem steht, dass ich ins Gefängnis muss?
Mein Leben ist nie sicher, es ist immer bedroht. Der volle Kühlschrank ist ein voller Kühlschrank auf Zeit, bald muss ich wieder hungern. Und ich muss sparen, weil es am Ende des Monats kein Geld mehr gibt. Obwohl ich genug Geld auf dem Konto habe und jeden Monat mehr dazu kommt, kaufe ich mir nicht die dringend nötige dicke Jacke, weil das Geld nicht mir gehört, jemand wird kommen und es mir wegnehmen und niemand wird helfen. Sie werden mich aus meiner Wohnung jagen und ich werde keine neue bekommen, weil man solchen Typen wie mir keine Wohnung gibt. Ich werde überfallen und verprügelt und der Mensch, den ich gerade kennengelernt habe und den ich versuche nicht zu verlieren und dem ich vertrauen will, kommt vorbei und sagt, dass er mich nicht kennt.

Mein Leben, wenn es gerade gut läuft, kann nur ein Versehen sein. Der Erfolg, den ich habe, kann nicht von Dauer sein. Hat mich dieser wichtige Mensch nicht ganz komisch angeschaut, als ich diese Auszeichnung bekommen habe? Meine Meinung zählt doch eh nicht, weil ich aus Verhältnissen komme, die ihr als Unterschicht bezeichnet. Und du sagst, du bist mein Freund? Wie lange denn? Bis du merkst, dass ich dir intellektuell nicht gewachsen bin? Oder erst wenn Du mitbekommst, aus welcher Schicht ich komme, was ja heute mehr denn je zählt?!
Es merken doch Alle, dass ich anders bin. Irgendwann wird mein gesamtes Dasein zerstört werden, komplett, denn nur „ein wenig“, das geht nicht. Der Mensch, der mich geheiratet hat, warum hat er das nur gemacht? Doch nicht aus Liebe. So was wie mich kann man nicht lieben. Hat er es aus Mitleid getan? Was will er von mir? Er, der doch aus anderen, aus sicheren Verhältnissen kommt! Seine Leute verlachen ihn. Wann wird er gehen?Wenn ich zusammenbreche, unter der Last meiner Vergangenheit? Oder wenn ihm seine eigene Welt genug Druck gemacht hat? Wann werde ich mein sicheres Leben verlieren?
Diese Fragesätze, die sich wie schlecht zusammengeklaubte Lyrik lesen, werden mir immer wieder von älteren Menschen erzählt. Oder von Kindern über ihre Eltern, die aus desolaten Verhältnissen kommen. Eine verstörende Angst verfolgt mich, die immer wieder, ohne Vorwarnung, zuschlägt. Du hast das Gefühl, du kannst machen, was du willst, du wirst immer anders sein. Du trägst die gleiche blaue Jeanshose und dasselbe schwarze unscheinbare T-Shirt wie allen anderen, du guckst genau wie die Anderen in dieser und jener Runde und trotzdem fällst du aus dem Rahmen und bist froh, wenn du diese Runde, aus der du aus dir völlig unerklärlichen Gründen geraten bist, verlassen darfst.
Du fühlst dich wie ein taubstummes Gummibärchen. Oder du teilst richtig aus, wie mir auch schon Menschen gebeichtet haben. Niemand soll denken, dass man ein Weichei ist, nur weil man von da unten kommt. Denn das wird einem ja auch wieder negativ ausgelegt. Ach, sieh mal, wie mitfühlend und nachgiebig der ist. Ist doch klar, der kommt aus der Unterschicht. Ein Emporkömmling, wie man früher so verächtlich sagte.

Ich war froh, dass ich mit meiner Lebensgeschichte überhaupt einen Ausbildungsplatz gefunden habe. Als Bäcker. Sie haben mich kurz vorher in die Verselbstständigung geschickt. Das heißt, man sollte lernen, alleine zu leben und für sein Leben Verantwortung zu tragen. Deswegen wollten die Betreuer mich am dritten Tag auch nicht mehr morgens um halb dreiwecken, das sollte ich alleine hinbekommen. Dann habe ich verschlafen. Die Leute, die mit mir in der Ausbildung waren, haben das mit der Verselbstständigung nicht machen müssen, die haben jede Hilfe von zu Hause bekommen, egal wie alt sie waren. Weil die zu Hause so stolz auf ihre zukünftigen Bäcker waren. Ich habe im Gegensatz zu ihnen immer wieder verschlafen und dann war Schluss, nach fünf Wochen. Die Bundeswehr war meine Rettung. Die hat meinem Leben Halt gegeben und mich stabilisiert. Aber ich habe bis heute Angst, dass es kippen könnte und die Geister der Vergangenheit mich einholen. Ich habe genau das bei so vielen, angeblich stabilen Menschen erlebt (Maik, 59 Jahre).

Wie wirkt sich ein instabiles Aufwachsen auf das berufliche Leben aus? Einige Jugendliche, die ich in den letzten elf Jahren in meinen Literaturwerkstätten kennenlernen durfte und die jetzt auch erwachsen sind, wollten Polizisten werden. Sie erhofften sich in der Gemeinschaft der Polizei Stabilität, Anerkennung und Freundschaft. Und sie wollen das Böse bestrafen können. Sie wollten das Schreckliche, was ihnen widerfahren ist, bekämpfen können. Sie wollten junge Menschen vor dem bewahren können, was ihnen widerfahren ist. Bis jetzt ist aber noch niemandem, den ich wieder getroffen habe, gelungen, bei der Polizei anzufangen.

An meinem ersten Tag als Automechaniker hätte ich direkt gehen sollen. Ich weiß nicht, was den Chef bei meinem Abgangszeugnis und Lebenslauf bewogen hatte, mich zu nehmen. Vielleicht hat ihn das soziale Gewissen geplagt. Mit mir hatte noch eine Abiturientin angefangen, die wollten alle neben sich am Auto haben. Mich wollte keiner. Auch ein geiles Gefühl, Du stehst da und der Chef fragt in die Runde, na wer nimmt denn mal unseren Neuen und keiner meldet sich. Da wurde ich zur Schwester des Chefs ans Auto geschickt. Die hatte natürlich auch keinen Bock auf mich und so stand ich da tagelang dumm rum. Irgendwann habe ich mich mit dem Behinderten angefreundet und mit dem die Autos gewaschen.
Eines Tages, so nach zwei Monaten, kam der Chef kurz vor Feierabend zu mir und sagte, ich müsse länger bleiben, er müsse mir mal was beibringen. Dann ging er mit mir zu so einemalten Schrottauto, machte die Motorhaube auf, zeigte auf etwas und meinte, kein Mensch wüsste, was das sei. Ich war der festen Überzeugung, der älteste Kollege im Betrieb wusste, was das war. Er war ein alter, knurriger und konservativer Knochen, den keiner leiden konnte. Der Chef mochte ihn auch nicht, weil er ihn von seinem Vater geerbt hatte, sprich übernehmen musste. Ich mochte den Typen, schon allein aus Solidarität, waren wir doch die Außenseiter im Betrieb. Ich sprach meine Überzeugung aus, mein Chef wettete dagegen. Am nächsten Tag holte mein Chef den alten Kollegen und mich, vor den Augen der Kollegen, zu diesem Auto. Und der alte Knochen wusste, was da unter der Motorhaube zusehen war. Als er zudem erfuhr, dass ich auf ihn gesetzt hatte und der Chef nicht, nahm er mich in den Arm und sagte, ich weiß, dass Du ein guter Mensch bist, wir sind beide von bösen Geschichten heimgesucht worden.
Der Reaktion der übrigen Arbeiter nach zu urteilen, hatte er eine solche Gefühlsregung noch nie gezeigt.
Am nächsten Tag hatte ich die Kündigung im Briefkasten. Geschenkt, ich habs ja doch noch gepackt. Aber vergessen werde ich das auch nach fünfzig Jahren nicht. Erstmal nimmt mich nicht so oft jemand in den Arm, zweitens weiß ich, hätte ich nicht so ein krasses Leben vorher gehabt, ich hätte mich niemals getraut, gegen meinen Chef zu wetten, Aber so wusste ich, wie man sich behauptet. Und drittens war der Alte seitdem mein Vorbild. Ich habe ja wirklich auch so eine krasse Geschichte und wenn ich jemanden treffe, dem es auch so ergangen ist, dann versuche ich ihm zu helfen (Tobias, 51 Jahre).

Meine Ausbildung zur Köchin hatte mir das Arbeitsamt vermittelt. Ich wollte eigentlich Zimmermann werden, aber es war nur Geld für eine Kochausbildung da. Weil das Arbeitsamt gezahlt hat, habe ich den Betrieb keinen Cent gekostet. Meine Kollegen waren komplett andere als ich. Nach der Schicht soffen sie sich kaputt und in den Pausen redeten sie über Frauen oder lästerten über abwesende Kollegen. Das war nicht so meine Welt. Mich wollten sie die ganze Zeit verkuppeln und fanden mich komplett seltsam. Mit einem Kollegen verstand ich mich, er war ein ganz Ruhiger. Wir mussten immer bis nachts arbeiten, deswegen schaffte ich es am nächsten Morgen nicht immer zur Berufsschule und die verpetzte mich immer im Betrieb. Beim dritten Mal zitierte mich der Chef in sein Büro. Ich passte aber nicht hinein, da mein Chef ein riesiger dicker Mann war. Er saß in seinem Stuhl und war trotzdem genauso groß, wie ich im Stehen. „Ich hätte niemals so jemanden wie dich anstellen dürfen. Schau dich doch mal an, Du machst Dich doch mit Absicht zum Außenseiter, sowie Du herumläufst. Hast Du nicht gelernt, wie man sich benimmt? Oder lernt man das in deiner Dreckswelt nicht? Wie kann man nur auf die Idee kommen, in der Pause Zeitung zu lesen? Da unterhält man sich mit seinen Kollegen.“ „Ich weiß nicht, über was“, erwiderte ich, kläglich gekleidet in Kochklamotten. „Über Petersilie oder sonst was! Egal Du passt hier nicht hin! Pack Deine Sachen und geh in Deine Welt, geh mir aus den Augen!“ Ich packte meine Sachen, während mein ruhiger Kollege versuchte, meinen Chef umzustimmen. Als Dank bekam er ein paar Tage später vor versammelter Mannschaft eine Abmahnung vom Chef überreicht, mit den Worten: „Das passiert hier mit Leuten, die meinen, sie müssten zu Außenseitern halten (Cornelia, 61 Jahre).

Der Vater von K. hatte sich seinen Lebensabend bestimmt ganz anders vorgestellt. Und er verachtet sich dafür, dass er, der erfolgreiche Doktor, jetzt in der Rente ein Wrack ist. Statt zu reden, trinkt er oder liegt tagelang im Bett. Er hat seine Gefühle nicht unter Kontrolle, weil die Dämonen aus der Vergangenheit nicht nur unter dem Bett hervorgekrochen, sondern auch durchs offene Fenster hereingeflogen kamen. Er hasst sich dafür, dass er seine Kinder darum beneidet, Dank ihm eine glückliche Kindheit gehabt zu haben. Wenn er ehrlich ist, wollte er nie Kinder. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er nachseiner Zeit im Heim in der Lage wäre, eigene Kinder großzuziehen. Seine Schwester, die wie auch er im Heim war, hat sich im Glauben gefangen. Sein kleiner Bruder, den er immer versucht hat zu beschützen, starb in jungen Jahren. Er weiß nicht, ob es Selbstmord oder ein Unfall war. Bis heute plagen ihn Schuldgefühle. Hat er ihn nicht genug beschützt? Aber wer beschützte ihn? Und wer schützt ihn jetzt?
Wobei er noch das Glück hat, seine Schmerzen im Reichtum erleiden zu können. Sophie, Nachkriegskind, in bitterere Armut aufgewachsen, gewalttätige Eltern, keine Fluchtmöglichkeiten, sitzt ihre Armutsrente in ihrer kleinen Wohnung in der Provinz ab. Alles bricht herein aus der Vergangenheit und jeder Ausweg scheitert am mangelnden Geld. So lange sie kämpfen musste, dachte sie nicht nach, blieb sie von Depressionen verschont. Ihr Mann brachte sich um, da waren die Kinder klein. Sie musste da sein, sie wollte da sein und brachte die Kinder alleine durch. Ihr Körper ist kaputt von der harten Arbeit. Für Freunde fehlte stets die Zeit. Sie fühlt sich allein, sagt sie, Nein das ist kein Gefühl, sie ist allein. Sie fühlt sich erstarrt, weil sie ihr Leben als komplett verpfuscht sieht. Sie, die Kämpferin, hat jeglichen Lebensmut verloren. Und jedes Wort der Hoffnung und der Aufmunterung empfindet sie als Hohn.
Was bleibt? „Auch nach zwanzig Jahren in einer Therapiedauerschleife kommen einen die Gespenster aus der Vergangenheit uneingeladen besuchen. Die Hölle, die wir in jungen Jahren betreten haben, werden wir nie wieder verlassen. Das, was sich schrecklich anhört, muss erst mal so als Realität angenommen werden. Den Dämonen aus unserer Vergangenheit müssen wir einen Platz in unseren Wohnungen geben und jederzeit damit rechnen, dass sie sich vom Sessel erheben und uns überfallen. Wir müssen unseren Frieden mit unseren Traumata machen und sie als Teil von uns akzeptieren, sonst werden wir neue schlimme Erlebnisse nicht ertragen können, ohne von ihnen überwältigt zu werden“(Conradt, 1979). Und diese Erlebnisse werden Zeit unseres Lebens kommen, darauf ist Verlass. Das Kind in uns hat nie gelernt sich selbst zu akzeptieren, aber wir als Erwachsene sollten es tun. Wir sollten uns so akzeptieren, wie wir sind, mit all unserer Traurigkeit, das ist der erste Schritt zur Heilung. Sich gemeinsam mit all seinen Dämonen und Schatten zu respektieren, nimmt ihnen den Schrecken.
„Vielleicht wird doch noch jemand in unser Leben kommen und sich, ganz ohne Gegenleistung, um uns kümmern. Dann wird sich unser Leben wandeln. Das wäre auf jeden Fall eine bessere Wendung, als uns mit Charakterpanzerungen zu umgeben, aus deren Ritzen es kaum noch menschelt“ (Conradt, 1979). Das würde unsere Seele unter Tränenzerbersten lassen – und das darf uns niemals zustoßen.

2.

Wir müssen mit den Dämonen aus unserer Kindheit unseren Frieden schließen. Es gibt Menschen, die sich als Erwachsene, nach desolaten jungen Jahren, in eine Endlostherapieschleife begeben. Manchen mag das helfen, andere macht das einfach nur noch kränker, wie mir erfahrene Therapeuten berichteten. Betroffene berichten mir auch immer wieder, dass die Dämonen der Vergangenheit bis ins hohe Alter am besten mit einer festen Struktur, sei es durch Arbeit oder sonstiger Verantwortung bekämpft wird. Vielleicht ist das der Grund, warum mir Mitarbeiter aus Altersheimen häufig erzählen, dass aus Ihren fitten Bewohnern, die gerade eingezogen sind, innerhalb kürzester Zeit seelische Wracks geworden sind.

Eine Generation die unter dem Mantra aufgewachsen ist:

  • man jammert nicht,
  • spricht nicht über Vergangenes,
  • lässt keine Schwäche zu,
  • lässt sich keine Trauer anmerken (höchstens Verbitterung),
  • stattdessen bringt man die Familie durch (ernährt sie und hält sich zusammen) und geht malochen

Es war dieser älteren Generation versagt, über das eigene Leid, welches einem in jungen Jahren zugestoßen ist, zu reden (das schließt die DDR mit ein). Ein Leben lang die Klappe halten und dann sitzt man fast vereinsamt im Altersheim, das Gedächtnis funktioniert nicht mehr so richtig, aber die Seele erinnert sich konsequent an den Horror der früheren Jahre, zumal man ja unter Menschen ist, die teilweise ähnliches erdulden mussten. Oder ganz Anderes, wie mir ein jüdischer alter Mann erzählte, der den deutschen Nationalsozialismus als Kind in einem Koffer überlebte, und sich plötzlich in einem Seniorenstiftwiederfand, wo seine dementen Mitbewohner auf einmal den Arm zum Hitlergruß erhoben. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, wehrte sich gegen seinen staatlichen Vormund(was dieser sich dabei gedacht hatte, konnte nicht herausgefunden werden) und verließ das Heim Richtung eigene Wohnung.
Gerade Menschen der älteren Generation, die in prekären Verhältnissen aufgewachsen sind, die oft Gewalterfahrungen gemacht haben, empfinden die ständigen Veränderungen der Welt (technisch, politisch etc.) als Bedrohung. Ich erinnere mich an einen Spaziergang mit einem älteren Mann, der mit seiner Armutsrente leben musste und kopfschüttelnd vor einem Café stand, in dem Cappuccino für vier Euro angeboten wurde, wahlweise mit Soja, Hafer und Erbsenmilch. Jede neue Welt, in der man nicht mithalten kann, wirkt bedrohlich. Da man diese neue Welt nicht versteht oder finanziell nicht mithalten kann, verschließt man sich ihr völlig und wird so, hat man nicht ein stabiles Umfeld, noch einsamer. Es wundert mich nicht, dass ich Senioren kenne, die trotz ihrer ärmlichen Lage, kein Problem mit sozialen Kontakten haben, da sie sich in der Internet- und Handywelt einbringen. Natürlich zeigt mir diese Welt auch, dass es Menschen gibt, die es vermeintlich gepackt haben und besser leben als ich. Anderseits ist es aber eine Hilfe im Kampf gegen die Traurigkeit, da mich diese Medien aus meiner sozialen Isolation herausholen können, unabhängig vom Geldbeutel.

Wenn ich respektiere, dass die Schreckgespenster meiner Vergangenheit, mich jederzeit überfallen können, muss ich Strategien entwickeln, wie ich sie empfangen kann. Denn ich muss auf der Hut sein und in der Lage sein, mich zu wehren. Dafür ist es verdammt wichtig, sich seiner selbst sicher zu sein. Das soll heißen:

  • Ich bin ein guter Mensch.
  • Ich habe viel erreicht.
  • Ich werde geliebt.
  • Ich werde gebraucht.
  • Mein Wort wird ernst genommen.
  • Man vermisst mich.

Selbstverständliche Sätze? Für jemanden, den der Schrecken und das Elend aus der Vergangenheit verfolgen, sind diese Sätze lebensnotwendig. Und wenn wir merken, dass es Menschen gibt, die zu schwach sind, sich diese Sätze selbst zu sagen, dann müssen wir sie ihnen zukommen lassen – oder besser, sie auf ein Transparent pinseln und der Person an die Wand hängen. Viele Betroffene müssen sich ein Selbstbewusstsein erst erkämpfen, es wurde ihnen nicht beigebracht, meist eher das Gegenteil. Wenn man für sein Selbstbewusstsein Lob braucht, dann sollte man sich dieses Lob holen. Helfen kann es auch, wenn man mal zu hören bekommt, dass man ein toller Typ ist und gute Dinge macht. Ich lese mir zum Beispiel gerne mal Sätze durch, die mir Teilnehmer meiner Literaturwerkstätten schreiben. Gerade habe ich einen Zettel in der Hand: Wir werden Dich vermissen. Das tut so gut, wie ein Literaturpreis.

Literatur

Conradt, H. (1979). Eine Spielgruppe. Sozialpädagogische Arbeit mit Schülern. Unveröff. Examensarbeit im Rahmen des 2. Staatsexamens.

Erikson, E. H.(1988). Der vollständige Lebenszyklus. Frankfurt a. M. Suhrkamp.

Günter, M. (2015). Der Fall nach oben … Eine Annäherung an den Themenschwerpunkt der etwas anderen Art. Sonderpädagogische Förderung heute, 60(4), 345–355.

Radebold, H. & Radebold, H, (2015). Zufrieden älter werden. Entwicklungsaufgaben für das Alter. Gießen:Psychosozial-Verlag.

Anschrift der Verfasserin:

Mirijam Günter
Schriftstellerin
Altener Straße 21
50825 Köln

Schwere Rucksäcke aus der eigenen Kindheit mitschleppen – und wie im Älter- und Altwerden damit umgehen

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