Meine Arbeit mit unterprivilegierten jungen Menschen / Von Mirijam Günter

veröffentlicht am 16.05.2019 in der FAZ

Oft werde ich gefragt, ob marginalisierte junge Menschen ein Bewusstsein für ihre eigene gesellschaftliche Position haben. Ich gab die Frage an acht inhaftierte junge Männer einer Jugendarrestanstalt weiter. Allerdings mit einer anderen Wortwahl. Unter „marginalisiert“ hatten sich die Befragten etwas mit Magnesium vorgestellt. Also frage ich: „Warum begegnen mir eigentlich so wenig Akademikerkinder in meinen Literaturwerkstätten, obwohl ich seit mehr als zehn Jahre in Jugendgefängnisse, Arrestanstalten, Haupt- und Förderschulen et cetera gehe?“ Nachdem sie Akademikerkinder mit Bonzenkinder übersetzt haben, meldet sich ein Junge und sagt, dass er mir am nächsten Tag die Antwort geben könnte. Am nächsten Tag gibt er mir einen Zettel und bittet mich, seine Antwort vorzulesen.

„Wir sitzen im Knast, weil wir arm sind“, lese ich vor, „Reiche Kinder sitzen nicht im Knast. Wir begegnen uns auch nicht. Wir haben nichts mit denen zu tun. Höchstens, wenn wir bei denen einbrechen oder die bei uns Drogen kaufen. Um reiche Kinder kümmern sich die Politiker. Für uns interessieren die sich nicht. Die kriegen gutes Essen und anständige Kleidung. Die wollen ja, dass aus denen auch was Gutes wird. Die interessieren sich nur für uns, wenn wir Mist bauen und denen schaden. Wir sind der Welt scheißegal.“ Etwas bedrückt lege ich den Zettel weg. „Nicht traurig sein, Mirijam,“ beruhigt mich einer aus der Gruppe, „wir kommen schon klar. Scheiß drauf, was die Leute über uns denken.“

In einer Kleinstadt gehe ich nach einer Literaturwerkstatt mit einem Förderschüler Billard spielen. In dem Jugendzentrum ist es dreckig und laut. Wir beschließen, das gute Wetter zu nutzen, und er zeigt mir seine Stadt und stellt mich allen Jugendlichen vor, denen wir begegnen. Alles Schüler aus unterschiedlichen Förderschulen. Ob er denn keine anderen Jugendlichen kennen würde, frage ich ihn. „Meinst du so Gymnasiasten oder so?“, will er wissen. „Zum Beispiel.“ „Nee, die dürfen nicht raus. Nur Asis wie wir hängen auf der Straße. Die würden auch nicht ins Juze gehen, weil da solche Leute wie wir abhängen. Außerdem müssen die Geige spielen und Englisch lernen, wenn die frei haben.“ Als ich ihm sage, dass er das ja auch in seiner Freizeit tun könne, lacht er: „Du bist echt witzig“.

In meiner Naivität wollte ich in den Anfangsjahren meiner Literaturwerkstätten tatsächlich Welten zusammenbringen. In der Provinz wollte ein Direktor einer Förderschule meine Träume nicht zerstören und willigte ein, dass ich Klassen vom örtlichen Gymnasium zu der Abschlusspräsentation einlade. Die Förderschüler und Gymnasiasten kannten sich nicht, obwohl sie alle aus der kleinen Provinz kamen. Fein getrennt saßen die Schüler. Aber man hätte auch so sehen können, wer von welcher Schule kommt, auch den anwesenden Lehrkräften sah man es an. Die Literaturwerkstattteilnehmer trauten sich nicht ihre Texte vorzulesen, aus Angst von den Gymnasiasten verlacht zu werden. Die Gymnasiasten saßen stocksteif und schweigend auf ihren Stühlen und trauten sich nicht, uns anzuschauen. Aus Angst von den Förderschülern verprügelt zu werden.

Alles gute Zureden half nicht, so dass ich aus Verzweiflung aus meinem Buch vorlas und danach die Veranstaltung beendete. Nach ein paar dieser Experimente gab ich auf, auch nachdem mir Teilnehmer immer wieder erzählten, dass sie sich wie Zootiere vorkamen, wenn sie Besuch aus anderen Welten bekommen.

Aber haben denn die Kinder recht, wenn sie sagen, dass es für sie nichts gibt? Ich kann Aktenordner mit Absagen für Literaturwerkstätten füllen. Grund? Geldmangel. Und es gibt für solche jungen Menschen nicht nur kein Geld für Literatur, sondern auch nicht für Ausflüge, Klassenfahrten, für eine gute Ausstattung der Räume oder einfach mal einen Anstrich. Was passiert denn mit solchen Heranwachsenden, die in einer solchen Armut aufwachsen? Oft wird mir vorgeschlagen, ich solle mir doch einfach eine andere Klientel suchen. Oder es passiert mir, dass mich doch jemand unterstützen will, aber gar nicht versteht, für wen ich eigentlich da bin, und ich finde mich dann nachmittags in einer Stadtbücherei wieder, und vor mir sitzen Mädchen vom Gymnasium, die von ihren Müttern einzeln mit dem Auto zum selben Reitunterricht gebracht werden.

Zu den Vorurteilen, die mir immer wieder begegnen, gehört auch die Aussage, dass sich die jungen Menschen, mit denen ich seit über zehn Jahren Literaturwerkstätten durchführe, nicht für Politik interessieren und noch nicht mal für ihre eigenen Interessen kämpfen. Tatsache ist, dass politische Bildung fast gar nicht stattfindet. Die meisten Kinder und Jugendlichen erziehen sich gegenseitig und erzählen sich vermeintliche Wahrheiten, die sie irgendwo aufgeschnappt haben und weiterverbreiten. Wenn ich aber keinen Zugang zur politischen Bildung habe und niemanden finde, der mir Dinge erklärt, wie soll ich mir dann eine politische Meinung bilden können? Wenn ich abgeschnitten bin von gesellschaftlich/politischer Teilhabe, wie soll ich dann ein Staatsbürger werden? Ist da nicht unsere Demokratie in Gefahr? Wenn bei Landtagswahlen fünfundzwanzig Prozent und mehr der Menschen nicht zur Wahl gehen, anscheinend nicht mehr erreicht werden, sich nicht repräsentiert fühlen und selbst das kein Thema ist?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass junge Menschen durchaus immer wieder mit mir über Politik reden möchten. So wie in einer Berufsschule, in einer Klasse, in der nur junge Erwachsene saßen, bei denen keiner wusste, wohin mit ihnen oder, wie die Klasse mir erzählte, man einfach abwarten wollte, bis sie schwanger werden oder im Knast landen. In der Schule wurde ich zuvor von einigen Lehrkräften mit den Worten begrüßt, sie wüssten nicht, was ich bei solchen Schülern wolle, die würden das doch gar nicht verstehen, und undankbar seien sie auch. Fast hätte diese Literaturwerkstatt nicht stattfinden können, nicht nur weil, mal wieder kein Geld da war, sondern auch, weil die Lehrer es ihren Schülern nicht zugetraut hatten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es einen heimlichen Wettbewerb gibt, wer die schlimmsten Schüler hat.

Die jungen Leute in der Klasse erzählen mir, dass Erwachsene sich nicht trauen, mit ihnen über Politik zu reden oder sie für dumm hielten. Das Thema Umweltschutz interessiert viele, aber die Jugendlichen denken großenteils, dass die Politiker nur reden und nichts machen. „Aber wir müssen auch was machen,“ entgegnete ich. „Aber was denn?“ „Wir können ja mal versuchen, einen Tag auf Plastik zu verzichten.“ „Kein Problem,“ beschließt die Gruppe, um am nächsten Tag zu berichten, gescheitert zu sein. „Alles nicht so einfach, die Welt besser zu machen“, gibt ein Schüler zu. „Wir können ja mal zu so einem gesunden Laden gehen“, schlägt ein anderer Junge vor.

Nach der Literaturwerkstatt führt die Gruppe mich zu dem gesunden Laden. Es ist ein Biosupermarkt. Ich kaufe eine vegane Bifi und teile sie. „Wieso muss die kleine Salami nach Gummi schmecken und so teuer sein?“, fragt mich der Schüler, der den Ausflug vorgeschlagen hat. „Warum können hier nur reiche Leute einkaufen?“ „Und warum glotzen die uns alle so an?“ „Man muss hier nicht einkaufen, man kann auch woanders gute Lebensmittel kaufen und sie frisch zubereiten“, entgegne ich. „Also meine Mama ist Putze, wenn die nach Hause kommt, ist die so fertig, dass sie froh ist, eine Pizza in den Ofen zu schieben“, berichtet mir eine Schülerin, „und ich werde später auch höchstens ne Putze. Wieso soll ich gesund kochen und dann auch noch, wenn ich völlig fertig bin, meinen Müll sortieren?“

 „Unterhältst du dich morgen wieder mit uns über Politik?“ „Über was wollt ihr denn reden?“ „Flüchtlinge!“ ruft einer. Am nächsten Tag halte ich mein Versprechen, und ich muss mir Sichtweisen der Schüler anhören, bei denen es mir schwindelig wird. Aber ich habe das ausgehalten und habe, was da an Fragen kam, beantwortet, und ich habe auf meiner anderen Meinung bestanden.

Da saßen aber zwölf schon ältere Jugendliche. Was macht denn ein Hauptschullehrer mit sechsundzwanzig pubertierenden Jugendlichen? Und wieso verdient er so wenig?

Geige spielen, ich? Du bist echt witzig!

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