Sozialer Aufstieg? Für viele ist das nicht mehr als ein Schlagwort. Für andere bedeutet es einen lebenslangen Kampf – gegen Vorurteile und mit der eigenen Herkunft.

Mit meiner Heim- und Hauptschulkarriere und einem sich anschließenden Leben in Armut hat man in Deutschland die Chance, Regalauffüllerin im Supermarkt zu werden, sofern Glück im Spiel ist. Den Satz „Aus dir wird eh nix“ musste ich mir von jeher anhören (die Jugendlichen in meinen Literaturwerkstätten müssen es bis heute). Mir wurde eine Zukunft im Knast oder als Drogenabhängige prophezeit. Als Frau hatte ich noch die Chance, alleinerziehend mit fünf Kindern von verschiedenen Vätern in einem sozialen Brennpunkt am Stadtrand zu landen. Meine Schicksalsgenossen von damals kannten nur die Verhältnisse und Menschen aus ihrer Schicht. Wir lebten in einer völlig abgeschotteten Welt, die wir für normal hielten. Wir wussten zwar, dass es Menschen gab, die anders lebten, aber für uns war es undenkbar, den Sprung aus der Armut und Perspektivlosigkeit zu schaffen. Das stand bei unserem täglichen Kampf, irgendwie über die Runden zu kommen, auch gar nicht zur Diskussion. Und mal angenommen, man hätte den Aufstieg geschafft: Hätten wir denn in einer anderen Realität überhaupt eine Überlebenschance gehabt? Es wird viel über Chancengleichheit, Bildungsaufstieg und die Überwindung sozialer Unterschiede geredet. Aber wie sieht es denn in der Realität aus?

„Ich habe“, so erzählt mir eine Frau, „mein Studium überhaupt nicht begriffen. Meine Mutter hat alleinerziehend in einem Discounter geschuftet. Wir mussten zu Hause jeden Cent umdrehen. Ich habe alles allein machen müssen und es auch hinbekommen, Ausbildung, die mittlere Reife in der Abendschule und das Abitur. Es war alles machbar. Aber als ich an die Uni kam, dachte ich, ich wäre auf einem anderen Planeten gelandet. Ich verstand den ganzen Ablauf nicht und konnte niemanden um Hilfe fragen. Alle anderen schienen sich zurechtzufinden. Meine Mutter merkte, dass etwas nicht stimmte, und sie gab sich die Schuld, weil sie uns keine besseren Startbedingungen gegeben hatte.“

An der Universität sitzt man plötzlich zwischen Arztsöhnen und Lehrerstöchtern, die sich über Auslandsaufenthalte, Skiurlaube und Museumsbesuche unterhalten. Was erzählt man dann? Wie man Tomaten im Supermarkt klaute? Von den spannenden Besuchen auf Ämtern, wo die eigene Mutter um jeden Cent kämpfen musste?

Dummheit, Gewalt, Armut

„Ich kam in dieser neuen Welt nicht zurecht“, berichtet mir ein junger Mann, „irgendwie hatte ich das Gefühl, die sprechen eine andere Sprache als ich, haben ein völlig anderes Leben als ich geführt und leben nach anderen Regeln, die ich nicht verstehe. Sie hatten ihre eigenen Codes, und ich konnte auch nicht, so wie sie, mit interessanten exotischen Geschichten aufwarten. Also, natürlich hätte ich ihnen von meinen Tricks erzählen können, wie man im Supermarkt Geld sparen kann, aber ich war sowieso schon ein absoluter Sonderling, da musste ich mich ja mit solchen Geschichten nicht noch mehr zum Außenseiter machen. Das war für mich eine total krasse einsame Zeit. Für meine Familie war ich nur der Herr Professor. Ich weiß, dass sie wahnsinnig stolz auf mich waren, aber mein Vater schämte sich seiner Herkunft und hatte Angst, mich an eine ihm völlig fremde Welt zu verlieren. Ich hatte das Gefühl, mich für die eine oder die andere Welt entscheiden zu müssen und wäre fast daran zerbrochen.“

Und ich?

Bei einem Treffen von Kulturschaffenden wird von einem Mann erzählt, dem man seine Vergangenheit an der Hauptschule nicht angesehen oder angemerkt habe. Sämtliche Klischees werden über diese Schulform ausgetauscht. Belustigt. Dummheit, Gewalt, Armut und was man eben sonst noch so über Hauptschulen gelesen hat. Als ehemalige Hauptschülerin kratzt dies an meiner Ehre. Ich oute mich.

Die Runde verstummt, und alle starren mich an.

„Verstehst du denn alles, worüber wir uns so unterhalten?“

Betretenes Schweigen

Als ich 2003 Schriftstellerin wurde und von 2004 an Bücher veröffentlichte, begab ich mich in eine völlig fremde Welt. Würde mir das heute noch gelingen? Der soziale Aufstieg ist noch schwieriger geworden, die Schere zwischen den Schichten wird immer größer.

Das merke ich in meinen Literaturwerkstätten, die ich seit 2008 für benachteiligte junge Menschen im deutschsprachigen Raum anbiete. Zu Beginn erzähle ich stets von meinem Werdegang. Meist ist es dann schnell ruhig, und oft sagen die Jugendlichen: „Du bist ja eine von uns.“

Es stimmt. Und ansonsten? In der Politik, den Medien, in gesellschaftlich relevanten Gruppen? Gibt es dort Menschen, die einst in Armut lebten? Die Schichten bleiben am liebsten unter sich. In den Anfängen meiner Literaturwerkstätten lud ich in einer Förderschule für eine Präsentation Gymnasiasten ein. Die Veranstaltung dauerte eine halbe Stunde. Die Förderschüler weigerten sich, ihre Texte vorzulesen, aus Angst, von den Gymnasiasten ausgelacht zu werden. Die Gymnasiasten saßen stocksteif da, aus Angst, von den Förderschülern verprügelt zu werden. Ich las aus meinem Buch vor und beendete die Veranstaltung. Obwohl alle Jugendlichen in derselben kleinen Stadt wohnten, kannten sie einander nicht.

„Angestarrt wie die Tiere im Zoo“

„Die leben nicht in unserer Welt, die sprechen eine andere Sprache“, erzählte mir vor Kurzem ein ehemaliger Literaturwerkstattteilnehmer, als er beschrieb, wie er Studenten kennengelernt hatte.

„Die haben uns, die Jugendlichen im Arrest, angestarrt wie die Tiere im Zoo.“

Stimmt das?

Eine Akademikerin bittet darum, mich bei einer Literaturwerkstatt besuchen zu dürfen. Ich möchte das eigentlich nicht. Sie sagt, dass sie so gerne kommen würde, um sich mit den jungen Leuten auf Augenhöhe zu unterhalten.

In ihrer Welt spricht niemand so

Nachdem ich die Heranwachsenden gefragt habe, darf sie kommen. Die Unterhaltung entpuppt sich als Monolog, den sie mit Fremdwörtern gespickt und in einer gegenderten Sprache führt. Dann verabschiedet sie sich. Ich bringe sie zum Auto. Als ich zurückkomme, sind die Jugendlichen ruhig. Zu ruhig.

„Was ist los?“ Keiner sagt etwas.

„Kommt, ich erzähl es keinem.“ Sie sagen immer noch nichts, aber ich gebe nicht auf. Endlich traut sich jemand: „Mirijam, wir wollen der Frau helfen!“

„Ihr müsst ihr nicht helfen, sie hat genug Geld.“

„Aber sie ist doch behindert.“

Es dauert etwas, bis ich verstehe, dass sie die gegenderte Sprache für eine Behinderung halten. In ihrer Welt spricht niemand so.

„Keine Steine, sondern Felsbrocken“

Man könnte natürlich fragen, warum die Jugendlichen die Dame nicht gefragt haben, was sie da eigentlich erzählt. Aber gefragt wird nicht gerne, wie mir die jungen Menschen immer wieder erzählen. „Die halten uns doch sowieso für dumm, da frage ich doch nicht noch nach, wenn ich etwas nicht verstehe“, sagen ein paar Jungs. Das kann ich verstehen, das ging mir genauso. Als ich die ersten Marxisten, Trotzkisten, Anarchisten und sonstige Revolutionäre kennenlernte, hatte ich Panik, sie würden denken, ich sei dumm, deshalb fragte ich nichts. Einige von ihnen erschienen auf Demonstrationen und Treffen, die sie Plenas nannten, mit einer großen Tageszeitung, aus der sie häufiger zitierten. Ich fragte nicht, aber für mich schien es damals völlig klar, dass die F.A.Z. eine kommunistische Zeitung war, die meine neuen linken Freunde auf den Zusammenbruch des Kapitalismus vorbereitete.

Als ich anfing zu publizieren, hatte ich eine ziemliche romantische Vorstellung von Schriftstellern. Ich dachte, sie schlafen bis mittags, trinken viel Rotwein, schreiben gemeinsam Pamphlete und rufen um Mitternacht die Revolution aus. Die Leute, die ich kennenlernte, nannten sich Autoren, waren sehr diszipliniert, und ich lernte nicht einen kennen, der in solchen Verhältnissen aufgewachsen war wie ich. Zu Anfang, in einer für mich neuen Welt, gab mir ein Professor Folgendes mit auf den Weg: „Sie sind eine Frau, Sie sind dunkelhäutig, und Sie sind aus der Unterschicht. Das wird man Sie immer spüren lassen. Sie werden es immer schwerer haben als Ihre Kollegen, man wird Sie fühlen lassen, dass Sie nicht aus demselben Stall kommen. Sie werden immer zehnmal mehr kämpfen müssen als alle anderen. Ihnen werden keine Steine in den Weg gelegt, sondern Felsbrocken. Für Sie ist nichts selbstverständlich. Sie werden immer daran erinnert werden, dass Sie aus einer anderen Schicht kommen. Das wird ganz schön einsam für Sie. Suchen Sie sich ein paar Fans aus der Oberschicht, die Ihnen helfen.“ Einer meiner Lieblingssätze aus meinen Literaturwerkstätten lautet: „Die mich immer schützen, sind die Engel.“ Ich suchte mir keine Fans, denn ich hatte mir in der Zeit, in der ich in Armut und Perspektivlosigkeit gelebt hatte, Engel gesucht. Die fand ich bei aufrichtigen Kommunisten und hilfsbereiten Katholiken. Der Unterschied war ja nicht so groß.

Mirijam Günter lebt als Autorin in Köln. Sie leitet Literaturwerkstätten in Jugendgefäng­nissen sowie an Förder- und Hauptschulen.

Aus dir wird nix

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